Fünf nach zwölf im Amazonasstaat
Geplanter Eingriff in die Verfassungsrechte gefährdet das Überleben der Indigenen
Bernd Lobgesang
Seitdem Jair Bolsonaro das Präsidentenamt übernommen hat, überschlagen sich die negativen Nachrichten aus Brasilien. Viele Errungenschaften aus der Zeit, als noch die Arbeiterpartei am Ruder war, sind zunichte gemacht worden und viele ökonomische, soziale, menschenrechtliche und politische Probleme, die dieses Land in der Vergangenheit prägten, sind wieder zurückgekehrt: So wird in Brasilien wieder gehungert.
Es sollen 19 Millionen Menschen sein. Der Amazonasregenwald verschwindet in einem rasanten Tempo, das spätestens seit Anfang der neunziger Jahre überwunden schien: Er verdoppelte sich um fast die Hälfte im Vergleich zu vergangenen Jahren auf ca. 4.000 km² pro anno. Die internationale Zusammenarbeit, die zu großen Erfolgen in der Bekämpfung des Waldverlustes geführt hatte, wurde von der brasilianischen Seite auf Es gelegt.
Die Regierung wird nicht müde, Umweltschützer und Klimaforscher als Staatsfeinde und vom Ausland finanzierte Agenten zu bezeichnen, und reduzierte die Staatsausgaben für Umwelt- und Klimaschutz um satte 23%. Die Regierung behindert die Arbeit der Umweltbehörde Ibama und verringerte die Zahl der Vollstreckungsbeamten, die gegen Umweltsünder vorgehen, um etwa ein Viertel. Der Einfluss der deshalb laut applaudierenden Lobby der Großagrarier auf die Regierung scheint grenzenlos zu sein. Er schlägt sich in einer ganzen Reihe von Gesetzen nieder, die illegales Abholzen und Abbrennen legalisieren. Alles das schränkt das Leben und Überleben der Menschen ein, die im und mit dem Wald leben. Zu den besonders gefährdeten Gruppen zählen die etwa 305 indianischen Völker. Darunter sind wahrscheinlich an die 100 Gruppierungen, die möglichst jeden Kontakt mit der westlichen Zivilisation zu vermeiden versuchen.
Thema ohne Ende:Der Kampf um das Land
Durch ein neues Gesetz droht nun den Ureinwohnern eine neue Gefahr. Es handelt sich dabei um den sogenannten „Marco Temporal 1988“, der auch als „Zeitmarke 1988“ bezeichnet wird. Gemeint ist damit, dass nur die Territorien in Brasiliens als indianische Reservate anerkannt werden dürfen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verfassung am 5. Oktober 1988 tatsächlich von Indigenen besiedelt wurden. Sollte dieser Gesetzesvorschlag vom Kongress verabschiedet und vom Obersten Gerichtshof anerkannt werden, verlören viele indianische Gemeinschaften auf einen Schlag das Anrecht auf ihre Stammesgebiete, denn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verfassung lebten sie dort wegen unterschiedlicher Gründe nicht. Die Indianerorganisation Apib (Articulação dos Povos Indígenas do Brasil) verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass die Stichtagsregelung „ungerecht ist, weil sie die Vertreibungen, die erzwungenen Umsiedlungen und alle anderen von den Indigenen erlittenen Gewaltakte unberücksichtigt lässt“. Dieser Hinweis trifft insbesondere auf die Zeit der Militärdiktatur (1964-85) zu, während der er es zu einer Vielzahl von Deportationen und auch einigen Massakern kam. Außerdem, so die Apib, werde die Tatsache geleugnet, dass die Ureinwohner bis 1988 als Staatsmündel galten und daher nicht eigenständig vor Gericht gegen die an ihnen begangenen Menschenrechtsverletzungen klagen konnten.
Im Augenblick wird der „Marco Temporal“ vom Obersten Gerichtshof verhandelt. Dessen Entscheidung sollte ursprünglich am 25. August fallen, wurde dann aber auf den 1. September verschoben. Aber auch an diesem Tag kam er zu keinem Ergebnis. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist kein abschließendes Urteil ergangen. Eventuell dauert es noch mehrere Monate, bis eine endgültige Entscheidung vorliegt. Der Oberste Gerichtshof hat in der Vergangenheit schon öfters im Sinne der Zeitmarke oder aber auch gerade gegen die Stichtagsregelung entschieden. Deshalb ist momentan noch völlig unklar, welcher Auslegung der Verfassung er seine Zustimmung geben wird. Von neun von zehn Richtern liegt noch kein endgültiges Votum vor.
Bolsonaros Kampf gegen die Ureinwohner
Wie nicht anders zu erwarten ist, stehen sich bei diesem brisanten Thema zwei Lager unversöhnlich gegenüber. Zu den wichtigsten Befürwortern des „Marco Temporal“ zählt die Bundesregierung. Insbesondere Präsident Bolsonaro wird nicht müde, sie für unverzichtbar, ja geradezu für lebensrettend für Brasilien darzustellen. Er meint, der Oberste Gerichtshof (STF) müsse „gesunden Menschenverstand“ aufbringen, damit „Brasilien nicht an die Indios ausgeliefert“ wird. In einer Livesendung am 2. September verstieg er sich zu der Aussage, dass jeder hergelaufene Ureinwohner im Falle einer Ablehnung der Zeitmarkenregelung „den Fußballplatz in Ihrer Stadt“ für sich als Reservat beanspruchen könne. Der Platz „muss dann demarkiert werden“, behauptete er.
Hetze gegen die Indigenen gehört zum Standardrepertoire Bolsonaros, seitdem er sich politisch betätigt. Als Mitglied des Stadtrates von Rio de Janeiro (ab 1988) und später als Mitglied der Abgeordnetenkammer des Nationalkongresses in Brasília (ab 1990) führte er einen ununterbrochenen Kampf gegen die Rechte der Ureinwohner. Und sein Hass geht tief: Einmal sagte er zum Beispiel, die Kavallerie der USA habe gute Arbeit geleistet, indem sie die Indianer umbrachte. Leider sei es in Brasilien nicht soweit gekommen.
Auch in seinem Wahlkampf um das Amt des Staatspräsidenten wurde er nicht müde, die Indigenen zu beschimpfen und sie als minderwertig und faul abzuqualifizieren. Er erklärte, keinen Zentimeter Land an indianische Gemeinschaften abzutreten, und hielt Wort. Während seiner Präsidentschaft wurde kein einziges Gebiet in Brasilien demarkiert und vom Staatspräsidenten durch seine Unterschrift zum Reservat erklärt. In der bereits erwähnten Fernsehansprache vom 2. September sagte Bolsonaro, die Indianer würden etwa
1.200.000 km² Land besitzen, das 14% des gesamten brasilianischen Territoriums entspräche. Sollte der „Marco Temporal“ nicht angewendet werden, würden sich die indigenen Landansprüche auf fast 2.400.000 km² verdoppeln, also auf ein Gebiet, das größer ist als der Südosten und Osten Brasiliens zusammengenommen. Das ist natürlich Unfug. Rechnet man allerdings die Landansprüche der Urbevölkerung zusammen, kommt man theoretisch auf etwa 14% der Gesamtfläche des Landes. In vielen Fällen haben sie es aber noch nicht vom Staat erhalten oder werden von Eindringlingen massiv in der Wahrnehmung ihrer Landrechte eingeschränkt. Nach Angaben von Adveniat blockiert die Regierung derzeit 237 Landzuteilungen. Survival International berichtet von insgesamt 690 Gebieten, die offiziell als Reservate anerkannt worden sind. Diese Territorien befinden sich fast ausschließlich im dünn besiedelten Amazonien. Das sind 98,5% aller indigenen Landansprüche. Die ganze Angelegenheit gewinnt jedoch dadurch an Brisanz, dass 50% der knapp eine Million umfassenden indianischen Bevölkerung außerhalb Amazoniens leben. Insgesamt bezeichnen sich weniger als 0,5% aller Brasilianer und Brasilianerinnen als Indigene. Damit lässt sich natürlich gut Politik gegen die Indianer und ihre umfassenden Landforderungen machen. Bolsonaros Ziel dagegen ist die vollständige Assimilation der Indigenen – und sei es auch gegen ihren Willen. Sie sollen ihre Landansprüche zurückstecken und es damit endlich Großagrariern und Minenkonzernen ermöglichen, die so freigewordenen Territorien für den Sojaanbau, die Viehzucht und den Bergbau zu nutzen. Diesem Ziel dient auch der „Marco Temporal“.
Der Marco Temporal und seine Konsequenzen
Die staatliche Kampagne für den „Marco Temporal“ reiht sich ein in eine ganze Kette von juristischen Maßnahmen, mit deren Hilfe die indigenen Landrechte eingeschränkt oder beseitigt werden sollen. Das Ziel der jetzigen Regierung ist es, Reservate willkürlich verkleinern, ihre Grenzen ständig neu ziehen oder sie im Extremfall auch ganz auflösen zu können. Die Nutznießer dieser Politik sind die mit Bolsonaro verbündeten Kreise der brasilianischen Gesellschaft, also insbesondere Bergbauunternehmer, Goldsucher, Holzkonzerne, Großgrundbesitzer, Großagrarier und Landspekulanten jeder Art, wobei es zwischen diesen Gruppen natürlich die vielfältigsten Überschneidungen gibt. Deren Interessen vertritt Bolsonaro energisch und schreckt dabei auch nicht vor Verdrehungen zurück: „Wenn der Marco Temporal verändert werden würde, könnte derjenige, der Soja anbaut, das Ganze vergessen. Der Typ, der in der Produktion aktiv ist, weiß, dass das, was er gerade macht, in zehn Jahren nutzlos sein wird, wenn sie (Anm: die Richter der STF) es sich bei ihrer Abstimmung anders überlegen sollten. Welchen Anreiz hat der Produzent dann, jetzt zu investieren? Welche juristische Garantie hat er, damit er weitermacht? Brasilien kann so nicht weiterleben.“
Die Debatte um den „Marco Temporal“, der nirgendwo in der Verfassung schriftlich fixiert ist, begann schon rasch nach deren Verabschiedung. Die Auseinandersetzungen nahmen Fahrt auf, als die linke Regierung unter Präsident Lula im Jahr 2007 versuchte, mit Hilfe der Gesetzesinitiative PL 490 das exklusive Nutzungsrecht der Ureinwohner für ihre Territorien einzuschränken, wenn auch vergebens. 2009 geriet das Thema erneut in die Schlagzeilen, als ein Konflikt zwischen Indigenen und Reisbauern im nördlichen Bundesland Roraima um die Demarkation des Reservats Raposa Serra do Sol entbrannte. Damals entschied der Oberste Gerichtshof (STF) zugunsten der Indaner, indem er auf deren Anwesenheit auf dem Territorium am Tag des Inkrafttretens der Verfassung verwies. Was gut für die Ureinwohner war, wurde aber schon zum damaligen Zeitpunkt von vielen Beobachtern als zweischneidige Entscheidung kritisiert. Denn wenn die Anwesenheit als Kriterium für die Landzuweisung betrachtet wird, kann die Nichtanwesenheit umgekehrt als entscheidendes Argument herangezogen werden, um indigene Landansprüche abzuschmettern.
Genau das geschah jetzt im Fall der Xokleng im südlichen Bundesland Santa Catarina. Sie wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Kolonisten aus dem von ihnen traditionell besiedelten Gebiet vertrieben. Sie kehrten dorthin zurück und 1996 gelang es ihnen, die Demarkation von 15.000 ha durchzusetzen. 2003 wurde ihr Territorium Ibirama La-Klãnõ sogar auf 37.000 ha ausgeweitet. Dagegen klagt nun das „Institut für Umwelt von Santa Catarina“ und fordert die Rückgabe des Landes vor dem Obersten Gerichtshof. Das Umweltinstitut argumentiert damit, dass die Xokleng 1988 nicht auf dem von ihnen zurückerhaltenen Land gelebt hätten. Die Sitzung 16. September dieses Jahres war schon die sechste in Folge, in der sich der STF über die Territorialfrage beriet.
Bolsonaro untergräbt die Demokratie
Am 7. September, dem nationalen Unabhängigkeitstag, drohte Bolsonaro vor Zehntausenden seiner Anhänger in Brasília den Obersten Gerichtshof offen mit Vergeltung, sollte es nicht in seinem Sinne funktionieren: „Entweder hält der Chef dieser Staatsgewalt seinen Richter im Zaum oder diese Gewalt wird das erleiden, was wir nicht wollen.“ Als „Chef“ bezeichnet er hier den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, Luiz Fux. Ohne direkt einen Namen zu nennen, geht es um den Richter Alexandre de Moraes, der Untersuchungen wegen die Verbreitung von Falschnachrichten während der letzten Präsidentschaftswahlen eingeleitet hat. Aber auch generell steht der STF auf der Abschussliste des Präsidenten und seiner Anhängerschaft, da nicht nur Bolsonaro, sondern auch einige seiner prominenten Unterstützer und selbst Mitglieder seiner Familie ins Fadenkreuz des Gerichtshofs geraten sind. Mehrere der mit dem Präsidenten verbündeten Politiker und Geschäftsleute kamen sogar in Haft.
Zwei Tage nach den Unabhängigkeitsfeiern erklärte dann auch noch der als Sprecher des Gremiums fungierende Richter Edson Fachin die Gültigkeit des „Marco Temporal“ für nichtig und bestätigte den grundlegenden Charakter der indigenen Rechte in der Verfassung (Artikel 231-232) . Entsprechend wütend fiel die Reaktion Bolsonaros auf diese Stellungnahme aus. Öffentlich stieß er massive Drohungen gegen Edson Fachin aus und betonte, er werde Entscheidungen dieses Richters nicht mehr akzeptieren.
Da Bolsonaro aufgrund seiner Politik, insbesondere aufgrund seines Versagens in der Covid-Pandemie, viel Zustimmung im ganzen Land verloren hat, versucht er sich nun als starken Macher und Kämpfer gegen das sogenannte „Establishment“ zu präsentieren. Das bedeutet, dass es alle demokratischen Institutionen, die Kritik an ihm üben, auf übelste Weise beschimpft und zu delegitimieren versucht. Er geriert sich mit Vorliebe als Opfer linker, vor allem kommunistischer Kräfte, die mit dem Ausland unter einer Decke stecken würden. Schon jetzt behaupten viele seiner Sympathisanten, Bolsonaro könnte im nächsten Jahr um seinen Wahlsieg betrogen werden. Auch Bolsonaro selbst schürt diese Angst und behauptete während eines Treffens mit Vertretern evangelikaler Kirchenvertreter in Bezug auf seine Wahlchancen im kommenden Jahr: „Ich werde getötet, eingesperrt oder wiedergewählt.“ Würden jetzt Präsidentschaftswahlen anstehen, erlitte aber der 66-Jährige gegenüber seinem wichtigsten Konkurrenten, dem von den Gerichten rehabilitierten Vorgänger Luíz Lula da Silva, eine deutliche Schlappe: Eine Erhebung des Umfrageinstituts Datafolha kam Mitte September zu dem Ergebnis, dass im ersten Wahlgang 44% Lula und 26% Bolsonaro wählen würden. Im dann notwendigen zweiten Wahlgang würden sich 56% für Lula und 31% für den jetzigen Präsidenten entscheiden. Ein Antidemokrat wie Bolsonaro ist aber nicht bereit, eine Wahlniederlage anzuerkennen. Deshalb gehen viele Beobachter davon aus, dass der Präsident in den nächsten Monaten noch für so manche böse Überraschung sorgen wird, um das ihm drohende Wahldebakel abzuwenden.
Demonstrationen in Brasília
Für die 305 indigenen Völker Brasiliens bedeutet das, weiterhin auf der Hut sein zu müssen. Sie wissen nur zu genau, dass Bolsonaro einer ihrer gefährlichsten und mächtigsten Feinde ist. Im August versammelten sich deshalb ca. 6.000 Frauen und Männer aus mindestens 176 verschiedenen Ethnien des Landes in der Hauptstadt und demonstrierten gegen die Regierung. Sie strömten aus allen Regionen Brasiliens zusammen. Viele kamen mit Bussen, einige aber auch zu Fuß, und legten Hunderte bis Tausende von Kilometern zurück. Auch Bedrohungen per Telefon und Internet hielten sie nicht von dieser Reise ab. Sie versammelten sich im Camp „Kampf für das Leben“ (Luta Pela Vida) und veranstalteten eine ganze Reihe von Plenumssitzungen und Demonstrationen unter dem Motto „Unsere Geschichte beginnt nicht 1988“. Der katholische Indianermissionsrat CIMI, seit Jahrzehnten einer der wichtigsten Verbündeten der Indigenen, bezeichnete das Lager in Brasília als „größte indigene Mobilisierung der letzten dreißig Jahre“. Mit traditioneller Kriegsbemalung, großen Federhauben und rhythmischen Gesängen zogen die Ureinwohner durch das Zentrum der Hauptstadt, hielten eine Mahnwache vor dem Sitz des Obersten Gerichtshofs ab und demonstrierten in der Nähe der Kongressgebäudes. Auf ihren Spruchbändern waren Slogans zu lesen wie „Die Ursprünge der Erde: Die Mutter Brasiliens ist Indigene“. Der nationale Verband Apib (Articulação dos Povos Indígenas do Brasil) veröffentlichte eine Verlautbarung mit zehn Botschaften, die an den Obersten Gerichtshof und die ganze Welt gerichtet sind. In dieser Botschaft heißt es unter anderem, dass die Geschichte der indigenen Völker Brasiliens weder im Jahr 1500 noch im Jahr 1988 beginne. Die indianischen Völker sähen im Land keine Profitquelle, sondern würden sich im Interesse der ganzen Menschheit um die Wälder kümmern. „Unsere Vielfalt und die Verbindung mit unseren Vorfahren vereinen uns. Unser Kampf ist auch ein Kampf für die Zukunft der Menschheit. Wir haben ein Konzept entwickelt, das die gesamte Welt betrifft, und wir wollen, dass die ganze Welt davon erfährt!“ Unter diesem Konzept versteht der Apib, dass die indigenen Völker durch ihre schonende Art der Nutzung des Landes dessen Unversehrtheit garantieren. Sie seien in der Lage, Nahrung ohne Gift und Raubbau an der Natur zu erzeugen, und sorgten doch dafür, dass ein gutes Leben für alle möglich sei.
Und jetzt?
Bisher verhallt dieser Aufruf ungehört im Palácio do Planalto, dem Regierungssitz des Präsidenten in Brasília. Dabei sollten ihm die Ohren klingeln, denn in Brasilien und weltweit wächst der Widerstand gegen seine neoliberale, rechtspopulistische Politik. Auf nationaler Ebene schlägt sich der Protest in den großen Städten zunehmend in Massendemonstrationen gegen die schleppende Bekämpfung der Corona-Pandemie, gegen die schlechte Wirtschafts- und Sozialpolitik, gegen den Genozid an den Ureinwohnern und die massive Zerstörung des Amazonasregenwaldes nieder. Auf internationaler Ebene sinkt das Image Brasiliens rapide. Auf den „Marco Temporal“ Bezug nehmend erklärte jetzt die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte in aller Klarheit, seine mögliche Einführung verstoße gegen internationales Recht.
Auch der Oberste Gerichtshof und der Kongress stehen unter internationaler Beobachtung. So forderte José Francisco Cali Tzay, der UN-Berichterstatter für die Rechte indigener Völker, vom STF, er solle die Zeitmarke ablehnen. Die renommierte Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wandte sich derweil an den brasilianischen Kongress mit der Forderung, einem Gesetz zur Einführung der Zeitmarke eine Abfuhr zu erteilen. Derzeit wird dieses Gesetz noch im Abgeordnetenhaus beraten. Sollte es angenommen werden, würde es zur weiteren Entscheidung an den Senat weitergeleitet.
Dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag liegt mittlerweile schon eine beeindruckende Anzahl von Anzeigen gegen Bolsonaro wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor. Sie stammen sowohl von brasilianischen als auch ausländischen und international tätigen Organisationen und richten sich gegen seine als Völkermord charakterisierte Politik. Aber alles das hat bisher zu keiner Kurskorrektur geführt. Genauso wenig wie der flammende Appell, den der Kazike Reginaldo Apyawa vom Volk der Apyawa-Tapirapé bereits vor zwei Jahren aus Amazonien direkt an Bolsonaro gerichtet hat: „Ist die Luft, die der Präsident atmet, anders als die Luft, die wir atmen? Ist das Wasser, das er trinkt, ein anderes als das, was wir trinken? Ist die Erde, auf der er lebt, eine andere als die, auf der wir leben? Nein, Sie irren sich, Herr Präsident. Wir sind hier, um Ihnen zu sagen, dass auch Sie sterben werden – genau wie wir. Denn die gesamte Menschheit ist konfrontiert mit dem Klimawandel und Umweltproblemen. Wir, die indigenen Völker, haben uns vereint, alle indigenen Völker Brasiliens. Vielen Dank, dass Sie meiner Nachricht zugehört haben.“
Ausgabe 164/2021