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Wie die Rassendemokratie sich als Chimäre entpuppt

Bernd Lobgesang

Zunächst sieht man Hubschrauber, die über dem grünen Dach des schier endlosen Regenwaldes kreisen. Dann jedoch zeigen sich mehr und mehr rötlich braune Flecken, auf denen kein einziger Baum, kein Strauch mehr wächst. Jetzt setzen die Piloten zur Landung auf einer breiten Piste aus roter Erde an, die sich tief hinein in den Regenwald erstreckt.

Wieder einmal haben Beamte des staatlichen Umweltbundesamtes IBAMA ein illegales Lager von Goldsuchern entdeckt. Routiniert gehen sie sofort an die Arbeit und verbrennen nicht nur die primitiven Behausungen der Garimpeiros, sondern auch deren fluchtartig zurückgelassenes Arbeitsmaterial. Und das ist zum Teil vom Feinsten. Besonders überrascht ein nagelneuer koreanischer Bagger, der offensichtlich extra zur Waldrodung eingeflogen wurde. Die IBAMA-Umweltschützer stecken nicht nur ihn, sondern auch das große Treibstofflager in Brand. Sie sind offensichtlich erschüttert: Mitten in einem staatlich geschützten Indianerreservat im Süden des Amazonas-Bundeslandes Pará haben sich Goldsucher niedergelassen und den Wald systematisch vernichtet. Und wie reagiert die Regierung auf ein derartiges Verbrechen? Als Präsident Jair Bolsonaro von der Aktion erfährt, verliert er wieder einmal völlig die Fassung, Kurze Zeit später entlässt er die beiden für diese Aktion verantwortlichen IBAMA-Beamten.

Der Regenwald brennt

Dieser Zwischenfall beleuchtet grell die derzeitige Lage in Brasilien. Die rechtsradikale Regierung unter Führung ihres Präsidenten Jair Bolsonaro hebelt die Verfassung aus, wo sie nur kann. Sie trocknet den staatlichen Indianerschutzdienst FUNAI personell und finanziell konsequent aus und setzt erklärte Gegner der Indigenen, die aus ihrem Hass keinen Hehl machen, an ihre Spitze, Auch dem Umweltbundesamt kürzt sie radikal die Mittel und verbietet es sogar der Behörde, erhobene Bußgelder einzufordern. Es ist deshalb kein Wunder, dass der Regenwald überall brennt und dass Indigene, ihre Verbündeten und natürlich auch Umweltschützer wie während der Militärdiktatur um ihr Leben bangen müssen. Allein von Januar bis April 2020 wurden laut Angaben des brasilianischen Instituts für Weltraumforschung (Inpe) 1.202 km² Regenwald in Amazonien ein Raub der Flammen. Das ist eine Fläche von der Hälfte des Saarlandes, und das sind 55% mehr Waldverlust als im Jahr davor. Dabei hat die Trockenzeit, während der üblicherweise die größten Brände gelegt werden, noch gar nicht begonnen. Die Regierung lässt das kalt. Bolsonaro genießt es sichtlich, wenn er sich über die Umweltschützer lustig machen kann. Am liebsten würde er sie alle in Amazonien festsetzen, wie er sagt, damit sie nicht mehr in den Städten für Unruhe sorgen könnten. Noch mehr Verachtung allerdings hegt er gegenüber ethnischen Minderheiten wie den etwa 235 indianischen Völkern seines Landes und den Nachfahren geflohener afrikanischer Sklaven, den Quilombolas. Ihre in der Verfassung garantierten Rechte will er beseitigen. Natürlich nicht nur er: Mächtige Interessengruppen aus der Landwirtschaft, dem Bergbau, der Industrie, dem Militär unterstützen ebenfalls sein Anliegen. Gar nicht abzuschätzen ist der das befürwortende Prozentsatz unter seinen Wählerinnen und Wählern, die ihn Ende 2018 mit 55,13 % der gültigen Stimmen in sein Amt gehievt haben.

       
Umstrittene Landansprüche

13% des brasilianischen Territoriums werden von etwa 235 indigenen Völkern als ihr traditionelles Gebiet beansprucht und müssen laut Verfassung vom Staat und seinen Vertretern geschützt werden. Bolsonaro jedoch will Gold, Erdgas, Öl und andere Bodenschätze auf indianischem Land fördern, Außerdem sollen dort Kraftwerke gebaut und Straßen angelegt werden. Deshalb wollte er schon im Februar dieses Jahres ein Gesetz durch den Kongress peitschen, das ihm genau diese Möglichkeiten eröffnet hätte. „Natürlich wird man den Konsens mit den Indigenen suchen – es wäre schwierig, dort etwas ohne deren Zustimmung aufzubauen. Aber ein Veto haben sie nur, wenn es um den Goldabbau durch Nicht-Indigene geht“, sagte Bergbauminister Klein, der zu den Verfassern des Gesetzentwurfs gehört.
In Brasilien gibt es insgesamt 486 Indianerreservate, die sich über das ganze Land verteilen. In den meisten Regionen, d.h. im Süden, Südosten und Nordosten, bestehen die Reservate fast immer nur aus sehr kleinen oder kleinen Gebieten. Die Zahl der dort lebenden Indigenen ist in der Regel gering und umfasst nur einige hundert oder tausend Menschen. In gewisser Hinsicht stellen  allerdings die Guarani-Kaiowá dar. Obwohl es sich um immerhin über 30.000 Indigene handelt, verfügen sie in einigen Regionen über gar kein Land und halten sich mühsam durch Landbesetzungen über Wasser. Ganz anders sieht es dagegen in Nordbrasilien aus: Dort in Amazonien, wo mehr als die Hälfte der kaum mehr als 900.000 Indigenen lebt, entstanden in den letzten Jahrzehnten sehr ausgedehnte Schutzgebiete. Das Reservat Raposa Serra do Sol an der venezolanischen Grenze etwas ist mit 17.430 km² etwa halb so groß wie  Belgien (30.680 km²) und das größte brasilianische Reservat überhaupt, das Gebiet der Yanomami, stellt mit 96.650 km² Ungarn in den Schatten (93.036 km²).
Der Gesetzesplan ist eine Bedrohung für alle Indianervölker des Landes. Insbesondere aber stellt es eine immense Bedrohung für ganz Amazonien, seine Flora und Fauna, seinen kulturellen und sozialen Reichtum und - wenn man so will- für seine heutige Existenz als Ganzes dar. Große Industrieprojekte in Amazonien haben bisher immer zu enormen sozialen Verwerfungen geführt. Angezogen durch die vage Aussicht auf Arbeitsplätze, zogen Zehntausende aus allen Regionen des Landes dorthin. Sie brachten nicht nur neue kulturelle Einflüsse und soziale Gewohnheiten mit sich, sondern leider auch Krankheiten, Alkoholismus und eine raumgreifende Zerstörung des immer noch größten Regenwaldes der Erde. Beispiele dafür sind die Staudammbauten am Rio Tocantins und am Rio Xingu und, oft schon fast vergessen, am Rio Uatumã, wo eine Fläche von der Größe des Saarlandes für die Produktion für wenig Strom unter Wasser gesetzt wurde. Dazu zählt aber auch die Planung und Durchführung der km langen Transamazônica, die von Nordostbrasilien aus bis zur peruanischen Grenze den Regenwald oder das, was noch von ihm erhalten geblieben ist, von Ost nach West durchschneidet. An ihren Rändern entstanden neue Siedlungen, von denen aus immer neue Kolonisten tiefer in den Regenwald eindrangen und ihn für die Landwirtschaft rodeten.  
Durch das neue Gesetzesprojekt könnte Bolsonaro seinem Angriff auf Amazonien mit einem scheinbar legalen Schutzmantel ausstatten. Dabei sind Bergbauprojekte auf indianischem Territorium keineswegs unumstritten. „Brasilien exportiert schon jetzt viele Rohstoffe. Und viel davon wird in Amazonien gefördert. Aber dazu musste man noch nie indigene Gebiete ausbeuten. Wir meinen, dass der Bergbau dort die Indigenen unnötigen Gefahren aussetzt. Außerdem schafft es soziale Konflikte und fördert noch Misshandlungen der Indigenen“, meinte der Umweltschützer und linke Oppositionspolitiker Rodrigo Agostinho.

Neue Verordnung könnte großen Schaden anrichten

Da bei der Verhinderung des neuen Gesetzes vom Kongress wenig Unterstützung für die indigenen Völker zu erwarten war, organisierten die Ureinwohner selbst den Widerstand. Im Vertrauen auf die Solidarität der internationalen Gemeinschaft reisten zwei ihrer bekanntesten Vertreter, die Kaziken Davi Kopenawa und Raoni Metukire, nach Großbritannien und appellierten an die Alte Welt: „Ich rufe Europa auf, uns anzuhören und zu helfen. Der weiße Mann kommt in mein Haus und zerstört es, dazu hat er kein Recht. Er begeht einen Fehler. Der weiße Mann missachtet die Natur, nur wir achten sie. Was heute passiert, ist, dass die Regierung dort den Tod der Indigenen anordnet. Deshalb bitte ich euch, mit der Regierung zu reden und Druck auszuüben, damit sie die Indigenen in Ruhe auf ihrem Land leben lassen.   Ich will in Frieden leben, ohne Kampf, ohne sich gegenseitig unzubringen. So will ich es. Ich will keine Kämpfe “      
Aus Erfahrung weiß man, dass derartige Worte bei der heutigen brasilianischen Regierung auf absolut taube Ohren stoßen. Jetzt hat sie sich etwas Neues ausgedacht, das unter der Ebene eines Gesetzes für unermesslichen Schaden sorgen wird. Die staatliche Bestimmung mit dem Titel „lnstrução Normativa noº 9/2020“ läuft darauf hinaus, die bisherige Indianerschutzpolitik, die alles andere als ideal war, völlig auf den Kopf zu stellen. Diese Instruktion besagt, dass 237 bisher noch nicht offiziell vom Staat anerkannte Indianergebiete in der Größe von fast 98.000 km² Nichtindianern zugänglich gemacht werden sollen. Viele davon liegen in bisher noch von dichtem Regenwald bedeckten Regionen Amazoniens. Besonders bedroht werden wieder einmal bisher noch isoliert lebende Gemeinschaften. Über hundert davon soll es in Amazonien geben. Sie gehen jedem Kontakt mit Nichtindianern konsequent aus dem Weg, da sie oft schlechte Erfahrungen damit gemacht haben. Nach Meinung der Kritiker der staatlichen Indianerpolitik öffnet die neue Instruktion  nun ganz offiziell Landräubern, Viehzüchtern, Sojabauern, Goldsuchern, Holzfällern und anderen den Weg auf indianisches Territorium. Bisher war es so, dass derartige Landnahmen nicht erteilt wurden, wenn dadurch indianische Forderungen verletzt werden konnten. Dabei spielte es keine Rolle, wie weit der oft zähe Prozess der staatlichen Anerkennung von indigenen Landansprüchen bereits vorangeschritten war. Weil dieser Vorgang so offensichtlich gegen Recht und Gesetz verstößt, ist der Widerspruch entsprechend breit und vehement. Außer vielen Vertretern von Indianerorganisationen, Umweltschützern, Menschenrechtlern und regierungskritischen Politikern meldeten sich auch 49 Mitglieder von Staatsanwaltschaften aus 23 brasilianischen Bundesländern zu Wort. Sie forderten unter Verweis auf Artikel 230 der Verfassung, der explizit die indianischen Landansprüche unter staatlichen Schutz stellt, die sofortige Annullierung der Instruktion.

Dörfer als Klimaretter

Die Regierung Bolsonaro hat bisher kein einziges Indianergebiet zum Reservat erklärt, obwohl in Dutzenden von Fällen der Anerkennungsprozess bereits abgeschlossen ist, so z.B. bei den Tupinambá im Bundesland Bahia. Bolsonaro hat während des Wahlkampfes und auch danach immer wieder versprochen, dass er keinen Fußbreit Land mehr an die Ureinwohner abtreten wird. Seine gängigsten Begründungen dafür sind, dass die Indianer das Land nicht ökonomisch sinnvoll nutzen. Sie seien zu faul, ein Hindernis für den Fortschritt, ja sogar wegen ihrer Kontakte mit internationalen Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen Agenten des Auslands. Die plumpesten Unterstellungen sind Bolsonaro und den ihn unterstützenden Gruppen wie Großgrundbesitzern, Militärs, Goldsucherverbänden, Industriellen und evangelikalen Sekten nicht abstrus und abgedroschen genug, um sie immer wieder gegen die indianischen Völker – und auch andere von der Verfassung geschützte ethnische und kulturelle Minderheiten – ins Feld zu führen. Da die indigenen Dorfgemeinschaften wenig zum Bruttoinlandsprodukt beitragen, gelten sie in den Augen der Vertreter der neoliberalen Wirtschaftsordnung als wertlos. In Wirklichkeit spielen sie gerade aufgrund ihres umweltschonenden Verhaltens eine unverzichtbare Rolle für den Erhalt des ökologischen Gleichgewichts. Dort, wo sie leben, ist in der Regel die Natur noch intakt. Die Regenwälder sind nirgendwo so unversehrt und artenreich wie in den Naturschutzparks und in den indianischen Reservaten. Wer schon einmal mit dem Bus durch Brasilien gefahren ist, kann das bestätigen: Oft beginnt der dichte Wald urplötzlich dort, wo das Reservat beginnt, und genauso abrupt endet er dort, wo man es wieder verlässt. Satellitenaufnahmen bestätigen ebenfalls diesen Befund. Die Bewahrung und Pflege des Regenwaldes garantieren nicht nur den Fortbestand einer gigantischen Artenvielfalt an Pflanzen und Tieren, sie stabilisieren damit auch das Klima mit seinen hohen Niederschlägen und Windströmen. International anerkannte Wissenschaftler sind sich einig, dass das gesamte Regenwaldsystem in Amazonien zusammenbrechen wird, wenn kaum mehr als 20% seines Bestands vernichtet sind. Dieser Wendepunkt ist entweder schon erreicht oder das Datum, an dem es geschehen wird, steht kurz bevor. In Amazonien droht nicht nur die Versteppung riesiger Flächen, die zu aufgeheizten, unfruchtbaren Böden und einem ungeheuren Artenverlust führen wird, sondern die Folge wird auch eine radikale Veränderung der Richtung und des Feuchtigkeitsgehalts der Windströme sein. Es wird auf jeden Fall weniger Niederschläge geben. Einen Vorgeschmack auf dieses Horrorszenario gab es schon vor wenigen Jahren, als im Südosten Brasiliens die Regenfälle ausblieben und Millionenstädte wie São Paulo und Rio de Janeiro monatelang auf dem Trockenen saßen. Diese Region ist in einem großen Maße abhängig von den aus Amazonien stammenden Winden abhängig, die hohe Niederschläge  mit sich bringen – oder eben nicht. Durch den Schutz der Wälder leisten also die Indigenen eine große, wenn auch unbezahlte Arbeit zugunsten der gesamten brasilianischen Gesellschaft und letztendlich auch für das Weltklima.

Unheilige Sekten

Gedankt wird es ihnen nicht. Ganz im Gegenteil. Unter der Regierung Bolsonaro geraten Indianerreservate jetzt sogar in die Gefahr verkleinert, verlegt oder ganz aufgelöst zu werden, wenn das den Interessen der den Präsidenten stützenden politischen und ökonomischen Kräften entgegenkommt. Die völlig gegen die Verfassung verstoßende Aufhebung eines Reservats wird besonders dann immer wahrscheinlicher, wenn die Indigenen in einer Region in die Minderheit geraten. Gerade Großprojekte wie Staudammbauten führen zu großen Bevölkerungsbewegungen und waren deshalb auch schon früher eine Waffe in der Hand der Regierung.  
Als Vorbereiter dieser ethnischen Durchmischung dienen sich Sekten und Missionsgesellschaften gerne an. Diesem immer mehr an Macht gewinnenden Segment der brasilianischen Gesellschaft steht der Präsident sehr nahe und viele von ihnen unterstützten ihn euphorisch in seinem Wahlkampf. Trotzdem sorgte es für einige Überraschung, als Bolsonaro im Februar dieses Jahres den evangelikalen Missionar Ricardo Lopes Dias zum Leiter der Abteilung für unkontaktierte Völker innerhalb des staatlichen Indianerschutzdienstes (FUNAI) ernannte. Zu ungeeignet erschien dieser Mann für diesen Posten.  
Jetzt, Ende Mai, wurde er von dem Bundesrichter Antonio Souza Prudente wieder seines Amtes enthoben. Souza Prudente erklärte, die Ernennung sei rechtswidrig, da ein „klarer Interessenkonflikt“ vorliege und außerdem das Prinzip der Selbstbestimmung gefährdet sei. Lopes Dias war früher Mitglied der New Tribes Mission (NTM). Die Generalstaatsanwaltschaft, die seine Absetzung in die Wege leitete, kam in den Besitz von Dokumenten, aus denen die Verwicklung von New Tribes Mission in einen Plan zur Herstellung von Zwangskontakten und zur Missionierung von nicht kontaktierten Indianervölkern hervorgeht. Evangelikale Sekten fordern immer unverblümter von der Regierung, selbst in den abgelegensten Regionen Amazoniens missionieren zu dürfen. Bei ihrer Arbeit gehen sie oft respektlos vor. Sie missachten aus Prinzip die indianischen Religionen und Gebräuche und zwingen den Neubekehrten westliche Kleidung und Verhaltensregeln auf. Da die Mission selten von Impfaktionen begleitet wird, sind die Dorfgemeinschaften hilflos dem Vordringen von für sie lebensbedrohlichen Krankheiten und Seuchen ausgeliefert. Alle nicht medizinisch gu vorbereiteten Kontaktaufnahmen mit isoliert lebenden Völkern stellen für sie ein erhebliches Gesundheitsrisiko dar. Einfache Atemwegserkrankungen, Erkältungen oder Magen-Darm-Infekte können bei ihnen schnell tödlich verlaufen, da ihnen die zur Genesung notwendigen Abwehrstoffe fehlen. In den vergangenen Jahrzehnten sind deshalb immer wieder ganze Dorfgemeinschaften bis zu 80% dahingerafft worden.

Corona als Katastrophenbeschleuniger

Und nun auch noch Corona. Als ob es nicht ausreichen würde, dass die brasilianische Regierung und auch Teile der Bevölkerung den Genozid billigend in Kauf nähmen, breitet sich jetzt auch noch die Epidemie nicht nur besonders in den Großstädten aus, sondern auch in den Indianerreservaten. Durch Straßensperren am Eingang zu ihrem Land hindern Indianer jeden Auto- und Lastwagenfahrer, der nicht zu ihrer Gemeinschaft gehört, an der Weiterfahrt. Sie veranstalten auch Demonstrationen, um auf ihre gefährdete Lage aufmerksam zu machen. „Die eigenen Zahlen, die wir als indigene Bewegung bislang kennen, sind weitaus höher als die, die die offizielle Behörde bekannt gibt“, sagt Sônia Guajajara (46), eine der führenden Vertreterinnen der indianischen Widerstandsbewegung. Guajajara nennt die Probleme für die indigene Bevölkerung bei der Bekämpfung der Pandemie „immens und tragisch“. Sie seien dem Virus schutzlos ausgeliefert. „Es muss endlich Gesundheitszentren geben, die den Menschen eine medizinische Behandlung zukommen lassen“, fordert sie. „Besonders in der Amazonas-Region, wo das Gesundheitssystem schon zusammengebrochen ist.“ Jetzt könnte die Seuche ganze Dörfer ausrotten. 

Vorläufiges Fazit

Der Regierung ist das egal. Sie missachtet die Verfassung und bekämpft den multiethnischen und multikulturellen Charakter des Landes, der in der Verfassung ausdrücklich betont wird. Sie räumt auch auf mit der schönen Legende von Brasilien als dem Land der Rassendemokratie. Selten in den letzten Jahrzehnten wurde die Fadenscheinigkeit dieser Mär deutlicher. Eine kleine, weitgehend hellhäutige Elite, die rassistisch denkt und handelt, regiert diesen Koloss. Europa, die einstige Wiege des Rassismus, muss sich gegen eine Regierung positionieren, die mit Worten und Taten den Genozid ermöglicht. Es ist das Mindeste, dass alle Wirtschaftskontakte gründlich darauf überprüft werden müssten, ob sie die Menschenrechte verletzen und der Natur unwiderruflichen Schaden zufügen. Die Europäische Union, die einerseits den Schutz der Regenwälder fordert und andererseits Soja in riesigen Mengen importiert, betreibt eine Politik, die sich selbst völlig widerspricht. Zur Klarheit gehört auch dazu, dass deutsche Politikerinnen und Politiker endlich Farbe bekennen. Es sollte sich nicht mehr wiederholen, dass ein Außenminister bei seinem Antrittsbesuch in Brasília eklatante Verletzungen von  Menschenrechten  in seinem Gastland verschweigt.
Das Coronavirus verbreitet sich weiter unter den indigenen Völkern Brasiliens. Stand 1.6.2020: Laut der Indigenenvereinigung Apib haben sich bisher mindestens 1.809 Indigene infiziert; 178 Indigene starben an dem Virus. Von den 178 Todesfällen entfallen 111 auf indigene Völker in Amazonien.

Ausgabe 161/2020