Zum Hauptinhalt springen

Einschüchterungen, Klagen, gestoppte Bücher

Harte Zeiten für Cartoons und Comics in Brasilien

Lea Hübner

Kritische Stimmen haben es schwer unter der Regierung des rechtsextremen Jair Bolsonaro. Das trifft auch brasilianische Comicschaffende und Karikaturisten.
Als der brasilianische Präsident und Pandemieleugner Jair Bolsonaro im Juni 2020 dazu aufrief, Krankenhäuser zu stürmen, die Covid-Patienten behandelten, erschien im Blog des Journalisten Ricardo Noblat „BlogdoNoblat“ eine Karikatur des Zeichners Renato Aroeira, die den Präsidenten mit Farbtopf und Pinsel in der Hand zeigt, der zuvor das Symbol für medizinische Hilfe, das Rote Kreuz, zum Hakenkreuz gemacht hat.

Darauf leitete das Justizministerium ein Ermittlungsverfahren gegen den Zeichner und den Blogbetreiber wegen Verleumdung des Präsidenten ein – in Brasilien kann das bis zu vier Jahre Gefängnis bedeuten. Dies löste große Empörung und eine Solidaritätsbewegung von Medienschaffenden und Intellektuellen aus, bei der unter dem Hashtag #somostodosaroeira (wir sind alle Aroeira) Hunderte von Zeichner*innen aktiv wurden.
Dass „Kunstschaffende zum erklärten Feind gemacht“ würden, ist laut der Journalistin und Cartoonistin Carol Ito symptomatisch für die Polarisierung der brasilianischen Gesellschaft, wie sie im Interview sagt. Ito – Autorin des Comicstrips „Quarentiras“ und Betreiberin des Cartoon-Blogs „Salsicha em Conserva“ – engagiert sich für die Sichtbarkeit von Frauen und Transpersonen in ihrem Metier.
In einem per Skype geführten Gespräch sagt sie: „Es kommt nicht von ungefähr, dass der Diskurs über die freie Meinungsäußerung zumeist von weißen Männern geführt wird – die sich nämlich befähigt fühlen, über alles zu sprechen und zu urteilen.“
Frauen nähmen sich noch viel zu selten diesen Raum und von ihnen würden auch eher „weibliche“ Themen erwartet. Um das aufzubrechen, gründete sie 2017 mit einigen Mitstreiterinnen im Web „Políticas“, eine Plattform für politische Karikatur aus der Feder von Frauen und Transpersonen.

Hetze gegen „Minderheiten“ ist Programm

Um zu verstehen, was in Brasilien passiert, muss man ein paar Jahre zurückgehen, als während der Regierungszeit der Arbeiterpartei PT unter Luiz Inácio Lula da Silva (2003–11) und Dilma Rousseff (2011–16) den Privilegien der herrschenden weißen Eliten eine Politik der Gleichberechtigung und Teilhabe entgegengesetzt wurde. Durch Sozialprogramme gelang es, die Armut zu verringern. Durch Quoten begann sich die Repräsentation von Schwarzen, Frauen und Armen an Universitäten und in öffentlichen Ämtern zu verbessern. Es gab Anstöße zu einem Wandel im Denken, wie die öffentliche Anerkennung des gesellschaftlichen Beitrags der afrobrasilianischen Bevölkerung, Akzeptanz von LGBTQI*, Aufarbeitung der Zeit der Militärdiktatur (1964–85).
Mit der Machtübernahme der Rechten wurde das 2016 gestoppt und ab 2018 unter Bolsonaro die Gegenrichtung eingeschlagen. Abgeschafft wurden die Behörden, die mit Umweltpolitik beauftragt waren oder mit dem Schutz der Indigenen (so paternalistisch und unzureichend dieser auch war), abgeschafft die Anlaufstellen der Polizeireviere für Frauen/Opfer sexualisierter Gewalt, abgeschafft das Ministerium für Kultur.
Der amtierende Präsident verherrlicht die Zeit der brasilianischen Militärdiktatur, lässt aus den Lehrbüchern in dem Kontext gar das Wort Diktatur streichen. Und ausgerechnet mit der Bezeichnung „Unparteiische Schule“ wurde eine Linie vorgegeben, die es verbietet, im Unterricht Diversität zu thematisieren. „Wir erleben eine diskursive Verdrehung - etwa, wenn es heißt: Die Schwulen respektieren nicht die Familie.“, kommentiert Carol Ito. Vor allem Konservative und Evangelikale jubeln, viele andere hingegen halten an der Fortsetzung der begonnenen gesellschaftspolitischen Öffnung fest. Indessen ist aggressive Hetze gegen alle „Minderheiten“ Programm, begonnen bei Frauen und Nicht-Weißen. Mit lebensbedrohlichen Folgen. Dazu nun die maßlose Verantwortungslosigkeit Bolsonaros hinsichtlich der COVID-19-Pandemie.

Rios Bürgermeister geht gegen einen Marvel-Comic vor

Enorme mediale Beachtung weit über Brasilien hinaus erhielt ein Vorgang um den Marvel-Comic „Avengers: Der Kinderkreuzzug“. In einem Panel werden dort zwei sich küssende Männer gezeigt. 2019 ließ Bürgermeister Marcelo Crivella während der Buchmesse „Bienal do Livro do Rio“ die Bände von den Messetischen entfernen.
Die Begründung: moralische Bedenken, wenn das Buch Minderjährigen in die Hände falle. Es folgte eine gerichtliche Auseinandersetzung, begleitet von einer hitzigen öffentlichen Debatte, mit dem Ergebnis, dass ein Bürgermeister zu so etwas nicht befugt sei, selbst bei jugendgefährdendem Inhalt. Nebeneffekt: Die Auflage war im Nu vergriffen.
Keine Superhelden verlegt Rogério de Campos von Veneta, einem Independent-Verlag, der für Bücher mit einer kritischen Haltung steht. Gegenwind sei er gewohnt, sagt er. Kultur sei in Brasilien Luxus, der Buchmarkt nicht gerade stark. „In Brasilien ist der Staat ein wichtiger Abnehmer für die Verlage, er kauft ihre Bücher, so sie als didaktisch wertvoll erachtet werden, für Schulen und Bibliotheken.“
Es sei großartig gewesen, dass Bücher wie die seines Autors Marcelo D’ Salete „Cumbe“ und „Angola Janga“ über Schwarzen Widerstand während der Kolonialzeit, erschienen 2014 und 2017, für den Geschichtsunterricht angeschafft worden seien, und ein Beispiel für die damalige Progressivität. Heute hingegen könne jeder Titel Probleme bringen, der auch nur den Anschein habe, nicht konform zu sein zur Linie Bolsonaros, berichtet de Campos am Telefon.

Verlage in Unsicherheit

In vorauseilendem Gehorsam agieren nicht nur Amtsträger wie Rios Bürgermeister, viele Einzelpersonen werden zu Verfechter*innen der öffentlichen Moral zwischen zwei Buchdeckeln. So verhinderten etwa besonders verantwortungsbewusste Bibliothekarinnen oder Buchhändlerinnen, dass Bücher an ihr Ziel finden, ebenso der im Vertrieb arbeitende Anhänger einer evangelikalen Kirche, oder der biedere Angestellte eines Transportunternehmens – wie im Fall des von Veneta beauftragten Logistikers, der im Januar 2020 den Transport von Belegexemplaren an den Lizenzgeber in Frankreich verweigerte, wegen „nicht erlaubten Inhalts“.
Das Ganze bedeutet für die Verlage Unsicherheit. Sie werden womöglich ihre Auflagen nicht los, können die Auslieferung von manchen Titeln nur erzwingen, indem sie gerichtlich vorgehen, sie bleiben auf Lagerkosten sitzen und können Lieferfristen nicht einhalten. Doch das entmutigt Leute wie de Campos nicht, denn jede solcher Aktionen bringt medialen Wirbel und damit die Chance, sich in der Debatte zu positionieren.
Die Debatte wiederum deckt längst nicht alles – von etlichen Fällen, gerade der Selbstzensur aus Angst vor Rufmord und Repressalien, dringt gar nicht erst etwas nach außen.
Im Fall des Ermittlungsverfahrens gegen Renato Aroeira ging der Zensurversuch nach hinten los: Gemeinsam mit mehr als 100 Zeichner*innen der Solidaritätskampagne erhielt er Ende 2020 den Vladimir-Herzog-Sonderpreis für Journalismus für Menschenrechte, eine Auszeichnung, die in Brasilien sehr wichtig sei, so Paulo Ramos, Comicforscher an der Universidade Federal de São Paulo,  geknüpft an einen „Dialog verschiedener Sektoren der Gesellschaft“, weit über die Künstlerszene hinaus. Und dieser breiten „kollektiven Reaktion auf einen klaren Versuch von Zensur und Einschüchterung folgten weitere“, schildert Ramos, dessen Buch über Zensur von Comics und Cartoons in Brasilien bald erscheint. So hätten sich viele Anwältinnen und Anwälte bereit erklärt, Opfer von Einschüchterungsversuchen durch die Regierung kostenfrei zu vertreten.
Es mangelt nicht an Fällen: Das Observatório de Censura à Arte (Beobachtungsstelle zur Zensur von Kunst) vermerkt seit 2017 in Brasilien 60 Fälle von – nicht nur durch die Regierung – zensierter Kunst.
Das umfasst jedoch nicht alle Angriffe auf die Meinungsfreiheit, so fehlen die rassistische Polizeigewalt kritisierenden Cartoons der Zeitung „Folha de São Paulo“ und vier ihrer Cartoonist*innen, die für ihre Kritik an einem von der Polizei verübten Massaker an Teilnehmenden einer öffentlichen Funk-Party in einer Favela im September 2019 abgemahnt worden waren.
Für Renato Aroeira und den Blogbetreiber Ricardo Noblat ging der Fall am Ende gut aus: Mitte März 2021 wurde das Verfahren eingestellt.
Lea Hübner ist Lateinamerikanistin und Comicübersetzerin und hat unter anderem die im Text erwähnten Bücher von Marcelo D’ Salete ins Deutsche übertragen.

Ausgabe 164/2021