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Brasilien in der Corona-Umklammerung

Günther Schulz

Brasilien verliert gegen Covid-19! Die Sterbequote infolge der Pandemie steigt tagtäglich. Mitte Juni sind bereits über 450 000  Menschen gestorben, ein Ende des Sterbens ist nicht in Sicht.

Brasilien steht aufgrund des massiven Staatsversagens am Abgrund - und dies nicht nur wegen Corona. Mit Beginn der Regierungszeit Bolsonaros, vor dem Ausbruch der Pandemie, gab es bereits tiefgreifende negativeVeränderungen hinsichtlich der Ernährungssituation. Erinnert sei nur an die Auflösung des Nationalen Rats für Ernährungssicherheit im Jahr 2019. Auch das Auftreten des brasilianischen Präsidenten als Verleugner der Pandemie, seine Ironisierung: es  „ist nur ein Grippchen“, seine Verharmlosung bis in die neuere Zeit, sein demonstratives Auftreten ohne Maske in der Öffentlichkeit trugen dazu bei, dass die Corona-Epidemie sich schneller ausbreiten konnte. Ende April konstituierte sich ein  Untersuchungsausschuss, der das  mögliche Fehlverhalten der Regierung bzw. des Präsidenten im Zuge der Pandemie-Bekämpfung untersuchen soll. Ein Impeachment, also ein Amtsenthebungsverfahren, könnte die Folge sein.
Bolsonaro nimmt  zunehmend auch Institutionen im Visier, die ihm unangenehme Wahrheiten sagen könnten. Nachdem er  2019 den Chef des Nationalen Instituts für Weltraumforschung (Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais/Inpe, Ricardo Galvão, entlassen hat, ist ihm nun das Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE, Brasilianisches Institut für Geographie und Statistik) ein Dorn im Auge. Dieses anerkannte Institut ist u.a. verantwortlich für die Durchführung des  demographischen Zensus, der alle 10 Jahre erhoben wird. Es geht nicht nur um die Erfassung der Bevölkerungszahl, sondern ebenso um die Lebens-und Wohnsituation. 2020 wäre dieser Zensus wieder fällig gewesen, er wurde aufgrund der Pandemie auf  2021 verschoben. Seine Erhebung  versucht  Bolsonaro derzeit zu verhindern: Von den ursprünglich eingeplanten 2 Milliarden Reais (umgerechnet ca. 450 Millionen Euro) wurden im April nur 50 Millionen Reais (ca.7,7 Millionen €) vom Kongress bewilligt. Das  bedeutet, falls es dabei bleibt, dass auch 2021  keine entsprechende Erhebung möglich sein würde. Diese Entwicklung wäre wiederum der Regierung recht, bliebe ihr doch die Möglichkeit, die von anderen Instituten im Rahmen der Pandemie veröffentlichten Zahlen in Zweifel ziehen zu können.
Im März reichte die Präsidentin des IBGE, Susana Cordeiro Guerra, bereits aus Protest auf die Kürzungen ihren Rücktritt ein. Mittlerweile ordnete der Richter vom Obersten Gerichtshof in Brasilia, Marco Aurélio, am 28.April die Durchführung des Zensus an. Sein Argument lautet:  „Die Durchführung im laufenden Jahr zu verhindern, bedeutet eine Missachtung der Pflicht, statistische und geografische Daten, die bedeutend für die Nation sind, nicht zu erheben“. Die Erhebung sei essentiell für die Entwicklung des Landes und die öffentlichen Verwaltungseinrichtungen. Wie diese Auseinandersetzung ausgeht, war bei Redaktionschluss noch offen. Deutlich aber jetzt schon, dass es zunehmend auch Richter gibt, die sich offen gegen  Entscheidungen Bolsonaros wenden und klar Gegenposition beziehen.
Dies ist nur ein Beispiel für die  sich in den letzten Monaten  zuspitzende politische Situation. Nachdem einige Generäle ihren Rücktritt eingereicht haben, das Gesundheitssystem kurz vor dem Kollaps steht und mehrere Untersuchungsausschüsse bevorstehen könnten, ist unklar, wie es politisch weiter geht. Derzeit sitzt  Bolsonaro noch scheinbar fest im Sattel. Viele kleine Parteien im Parlament  profitieren  von staatlichen Zuwendungen, und stützen deshalb  – noch – die Regierung. Dies kann sich jedoch schnell ändern. Auch die Rolle der Militärs ist derzeit unklar. Viele Generäle stützen  Bolsonaro wohl kaum mehr aus Überzeugung sondern eher aus praktischen Erwägungen. Während in der Gesellschaft Kürzungen wie beispielsweise bei der Rentenreform im vorgenommen wurden, blieben die Militärs davon verschont und bekamen sogar noch mehr Privilegien. Zudem sind inzwischen viele Militärs in staatlichen Firmen an lukrativer Stelle tätig.

Anstieg der Verelendung

Folge politischer Fehlentscheidungen ist auch ein Ansteigen der Armut innerhalb der brasilianischen Gesellschaft; diese hat im Zuge der Pandemie inzwischen katastrophale Auswirkungen erreicht.
Der Hunger greift – in diesem eigentlich reichen Land - überall um sich. Corona wütet insbesondere in den armen Regionen und in den benachteiligten Bevölkerungskreisen wie in den dicht bevölkerten Favelas. Nach Angaben des zur Ernährungssituation in Brasilien arbeitenden Forschungsnetzwerkes Rede PENSSAN hungern inzwischen über 19 Millionen Brasilianer: innen. Dies in einem Land, das bei Lebensmittelexporten weltweit an dritter Stelle steht.

Der Hunger ist zurück

Bisher weitgehend nicht in der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wurde die Tatsache, dass in Brasilien auch schon vor der Pandemie laut Fundação Getulio Vargas (FGV) immerhin 24 Millionen Menschen oder 11% der Bevölkerung in extremer Armut lebten. Konkret stehen ihnen monatlich weniger als 40.- €  zur Verfügung.
Nachdem es Anfang 2021 überhaupt keinerlei staatliche Hilfe mehr gab, wurde sie  ab April für vier Monate wieder aufgenommen: 375 Reais, umgerechnet ca. 57.- €, sind der Höchstbetrag für eine Familie, 150 Reais, umgerechnet 22 €, bekommen Alleinstehende. Angesichts der gestiegenen Lebensmittelpreise sowie des Gaspreises ist das vollkommen unzureichend, wie die nachfolgenden Beispiele verdeutlichen.

Alltagskampf ums Überleben

Wie dramatisch die Situation ist, zeigt ein Fall  aus São Paulo. Hier leben seit 2003  500 Familien am Stadtrand in der Besetzung „Esperança“ – Hoffnung. Fast alle Familien sind im informellen Sektor tätig. Sie haben somit derzeit keinerlei Einkommen und sind  von Regierungsunterstützung abhängig. Die Mehrzahl ist auf einen 20.000 Liter fassenden Wassertank angewiesen. Der tägliche Gang zur Wasserstelle ist auch für die Kinder Pflicht. Andreia, sie lebt mit ihrem Mann und fünf Kindern, bekommt umgerechnet 80 .-€  im Rahmen des Sozialprogramms Bolsa Familia. Die Corona – Unterstützung, die es für ihre Familie im Jahr 2020 in Höhe von 600 RS (ca. 94.-€) gab, wurde Ende 2020 gestrichen. Ab April wurde die staatlichen Hilfszahlungen wieder aufgenommen, wenn auch bedeutend gekürzt.  Andreia bekommt jetzt noch 375 Reais, 57 €, zunächst bis Ende Juli. „Wie sollen wir da überleben? Reis, Bohnen, Öl, Eier - alles ist teurer geworden, Fleisch können wir uns nicht mehr leisten, Carne é luxo!“ Fleisch ist Luxus!.“ Andreias Mann arbeitet in „normalen Zeiten“ als Maler, derzeit ist auch er arbeitslos.
Jetzt fehlt es sogar oftmals an Reis und Bohnen, aber die Solidarität der Bewohner:innen ist beeindruckend. „Wir schlagen uns durch, bitten bei den Nachbarn. Wer etwas hat, hilft dem anderen. Es gibt Tage, an denen wir statt Reis mit Bohnen nur Nudeln und Maismehl essen.“
Die Besetzer:innen sind auf Spenden in Form von Cestas Básicas (Lebensmittelpaketen) angewiesen. Immer wieder mal werden Cestas abgegeben, ein Ergebnis zahlreicher Privatinitiativen. Deren Verteilung ist allerdings gar nicht so einfach:
„Wer bekommt von den 500 Familien die 30 Lebensmittelpakete, die wir zum Verteilen haben?“, klagt  Maura Lopez aus dem Leitungsgremium der Besetzung. Man einigte sich darauf, dass alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern den Vorrang haben sollen. Die  Corona-Notfallhilfe erhalten seit Anfang April 45,6 Millionen Menschen, gegenüber 2020 sind dies 22.6 Millionen weniger! Und die Lage hat sich 2021 erheblich verschlechtert.
Nicht nur die Lebensmittelpreise steigen ständig, ein weiteres Problem für viele Familien ist der überproportional gestiegene Gaspreis:  Kostete eine Gasflasche - botijão de gás – mit 13 kg Inhalt in Sao Paulo Anfang 2020 noch umgerechnet 9,50 €, sind das inzwischen etwas über 15 €.  Viele Familien kochen mit Gas, eine Gasflasche reicht normalerweise einen bis anderthalb Monate.
Luciene da Rocha wohnt mit drei Kindern und ihrem  arbeitslosen Ehemann zusammen. Sie  kocht inzwischen mit Holz. Der vorhandene Herd steht still, es ist kein Geld für die Gasflasche vorhanden. Im vergangenen Oktober konnte die Familie ihre Miete nicht mehr bezahlen. Deshalb zog  auch sie an den Stadtrand auf ein unbenutztes Stück Land und lebt seither dort in einer bescheidenen Holzbehausung.
Wie schnell der erreichte bescheidene Aufstieg zu Ende gehen kann, erlebt auch die Familie von Noemi de Almeida. Sie lebte vor der Pandemie zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in einer angemieteten Wohnung.  Mit ihrer Arbeit, er als Kellner, sie mit einem kleinen Essenstand vor einer Hochschule in Vila Maria, kamen sie auf ein monatliches Einkommen von 4000 Reais, ca.615.-€, das  ihnen ein bescheidenes Leben ermöglichte. Mit dem Aufkommen der Pandemie verloren sie ihre Anstellungen, und ohne jegliches Einkommen war die Miete von 900 Reais nicht mehr zu bezahlen. Sie schlossen sich der Wohnungslosenbewegung MTST an, und gemeinsam mit weiteren fast 2.000 Personen besetzten sie Ende 2020 ein Gebiet in Jardim Julietta. Sie überleben  augenblicklich durch Spenden.
Ähnlich erging es auch Ingrid Frazão, die zuvor mit ihrem Mann in eine Wohnung im Parque Edu Chaves lebte. Sie arbeitete als Hausangestellte, er hatte eine Arbeit in einer Sicherheitsfirma. Beide konnten die Miete von 700 Reais bezahlen, monatlich kamen sie auf ein Einkommen von 3000 Reais. Jetzt sind auch sie „abgerutscht“, nehmen ebenfalls an der Besetzung teil. Auch sie sind auf Spenden angewiesen und sehen einer ungewissen Zukunft entgegen.

Solidariedade  comunitária

Der Gemeinschaftsgeist ist es, der Schlimmeres verhindert. Gerade in den Elendsvierteln, den Favelas, ist zu beobachten dass die gegenseitige Unterstützung selbstverständlich ist. Auch in der brasilianischen Gesellschaft, so gespalten sie derzeit auch politisch ist, gibt es vielerlei Solidaritätsaktionen, zahlreiche lokale Initiativen entstanden. Auch viele bekannte NGOs (Nichtregierungsorganisationen) wie Ação da Cidadania, MST, MTST (s. Artikel in dieser Ausgabe), Cufa, ein Zusammenschluss von Favelas, aber auch Banken und Industrieunternehmen beteiligen sich an der Verteilung von Cestas Básicas.
Diese Aktivitäten sind umso notwendiger, da  von staatlicher Seite ein fast komplettes  Versagen vorliegt. Die ab April für vier Monate wieder aufgenommenen finanziellen Hilfsmaßnahmen sind, wie aufgezeigt wurde, mehr als unzureichend. Innerhalb Brasiliens gibt es zudem ein Gefälle. So sind im Norden 18,1% , im Nordosten 13,8%, im Südosten und Süden 6% der Familien vom Hunger betroffen.

„Se o campo não planta, a cidade não janta!“

Auch für die auf dem Lande lebenden Familien ist die Lage prekär. In den letzten Jahren gab es zahlreiche Ansätze zum ökologischen Wirtschaften unter den Kleinbauern. Sie konnten ihre Erzeugnisse auf dem lokalen Markt in den nahegelegenen Städten gut verkaufen. Das ist  augenblicklich fast zum Stillstand gekommen. Zudem hat auch hier die Regierung Einschnitte gemacht. Die familiäre Landwirtschaft, die auf staatliche Unterstützung angewiesen ist, sieht sich gravierenden Kürzungen ausgesetzt. So hat der Kongress den Betrag für das 2002 gegründete PRONAF (Programa de Fortalecimento da Agricultura Familiar – Programm zur Stärkung des landwirtschaftlichen Familienbetriebes) von 3,8 Milliarden Reais auf 2,5 Milliarden Reais gekürzt. Dabei ist die familiäre Landwirtschaft, die  auf 77% der produktiven Flächen praktiziert wird, maßgeblich  für die Ernährung der brasilianischen Bevölkerung verantwortlich. Nach einem Bericht der Tagezeitung Folha de São Paulo vom 5.April stieg der Hunger auf dem Lande von 21,1% auf 44,2% an. Auch hier ist Hilfe notwendig, und so hat auch die Landlosenbewegung MST beispielsweise in den Bundesstaaten Pernambuco und Paraiba mehrere Tonnen Lebensmittel verteilt. Auf diese Weise konnte sie zugleich auf die Bedeutung ihrer Bewegung aufmerksam machen: Se o campo não planta a cidade não janta!“ „Wenn auf dem Land nicht gepflanzt wird, hat die Stadt nichts zu essen“

Konkrete Solidarität Nicht nur reden – handeln

Seit Beginn der Pandemie gibt es auch in Deutschland private Initiativen, sodass es den „Brasilien-Bewegten“ möglich ist, ihre konkrete Solidarität zu zeigen. Als brasilieninitiative f r e i b u r g  e.V. , zugleich Herausgeberin der BrasilienNachrichten, sind auch wir seit Beginn der Pandemie dabei. Den Anfang bildete die Unterstützung der Wohnungslosenbewegung MTST, zu der wir seit Jahren einen freundschaftlichen Kontakt unterhalten (s.BN Nr.161/2020). Es folgte die Unterstützung indigener Völker in Amazonien. Die zunehmende Verschlechterung der allgemeinen Lage im Verlauf des Jahres 2021 brachte es mit sich, dass wir von unseren Partner:innen aus Brasilien verstärkt um Hilfe gebeten wurden. Das Spektrum reichte von Ubatuba im Südosten  über São Paulo, Salvador, Recife und Paraiba bis hin nach Manaus. Alle Anfragen sind auf unserer Webseite www.brasilieninitiative.de dargestellt.
Das Verbindende aller Anfragen ist die prekäre Ernährungssituation und die Bitte, die Verteilung von Lebensmitteln in den von unseren Projektpartner:innen betreuten Stadtvierteln bzw. Regionen zu ermöglichen.
So wichtig und notwendig politische Aktionen für eine Absetzung des rechtsextremen brasilianischen Präsidenten Bolsonaro sind, der mit seiner Politik Mitschuld an der katastrophalen Corona-Situation trägt, so notwendig ist derzeit unsere konkrete Solidarität.
Im April starteten wir eine bundesweite, bis in den Herbst dauernde, Kampagne für den Kauf von Cestas Básicas -Lebensmittelpaketen. Auch an unsere Leser*innen ergeht die Bitte, sich daran zu beteiligen. Erwerben Sie für 22.- € ein Lebensmittelpaket.

Cesta Básica – Lebensmittelpaket

Jede Region hat neben der kulturellen Vielfalt, die Brasilien auszeichnet, ihre regionalen Essgewohnheiten, und entsprechend unterschiedlich ist die Zusammenstellung eines Lebensmittelkorbes. Immer jedoch sind Reis, Bohnen und Öl fester Bestandteil. Für umgerechnet 22 € ist es beispielsweise möglich folgendes zu erhalten:
• 2 kg Zucker
• 2 kg Reis
• 1 Packung Kekse
• 1 kg Kaffee
• 2 Dosen Tomatenmark
• 1 kg Maniokmehl
• 1 kg Weizenmehl
• 4 kg Bohnen
• 1 Packung Maismehl
• 1 Packung Nudeln
• 1 Packung Spaghetti
• 3 Liter Sojaöl
• 1 kg Salz
• 2 Dosen Wurst
• 2 Dosen Sardinen
• 1 Gewürzmischung
Nicht enthalten sind unter anderem Gemüse, Eier, Milch und Fleisch.


Spenden können Sie unter dem Stichwort:

„Brasilien gegen COVID-19“
brasilieninitiative f r e i b u r g  e.V.
Volksbank Freiburg
IBAN: DE88 6809 0000 0025 0548 06
Oder mit „Paypal“ sowie „Betterplace“.
Die entsprechenden Links finden Sie auf unserer Website
www.brasilieninitiative.de

Ausgabe 163/2021