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Atomares Nordostbrasilien droht

Norbert Suchanek, Rio de Janeiro

Restart von Brasiliens Atomprogramm mit russischer Technik

Brasilien will noch in diesem Jahr den Bau seines umstrittenen dritten Atomkraftwerks „Angra 3“ fortsetzen. Die Baustelle lag seit 2015 brach als die Staatspolizei im Rahmen ihrer Anti-Korrruptionsoperation „Lava Jato“ einen Millionen schweren Korruptionsskandal im Zusammenhang mit dem Kernkraftwerksbau aufdeckte und 2016 der Vorstand des staatlichen Atomenergiebetreibers Eletronuclear, Vizeadmiral Othon Luiz Pinheiro da Silva wegen Korruption, Geldwäsche, Devisenhinterziehung und organisierter Kriminalität zu 43 Jahren Haft verurteilt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt waren 65 Prozent das Reaktors fertiggestellt. Eletronuclear rechnet nun mit weiteren Baukosten von rund 2,8 Milliarden Euro bis zur anwisierten Inbetriebnahme im Jahr 2026.

„Die Kernkraft wird eine wichtige Rolle zur Erholung und Wachstum von Brasiliens Wirtschaft spielen“, sagte vergangenen September der brasilianische Bergbau- und Energieminister Bento Albuquerque vor der Internationalen Atomenergiekommssion (IAEA) in Wien. Das Land werde bis 2030 die Atomenergienutzung vervierfachen. Dabei habe die Fertigstellung des dritten Kernreaktors Priorität. Zur Verwirklichung dieser atomaren Pläne unterzeichnete gleichfalls in Wien Electronuclear-Präsident Leonam dos Santos Guimarães ein Abkommen mit dem russischen Atomkonzern Rosatom unter anderem zum Bau von Atomkraftwerken, der Verlängerung der Laufzeiten bestehender Kraftwerke und zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoff.
Grünes Licht gab es vergangenen September auch für die bereits unter der Regierung Lula das Silva geplanten ersten Atomkraftwerke im brasilianischen Nordosten. Obwohl damals, 2009, die Nordost-Governeure darum stritten, wer das erste Atomkraftwerk gebaut bekommt, kamen die Projekte nicht voran. Denn die Landesherren hatten offensichtlich ihre eigenen Landesverfassungen nicht gelesen. Die im Schatten des Reaktorunfalls von Tschernobyl 1986 und des radioaktiven Unfalls mit Cäsium-137 von Goiânia im Jahr 1987 geschriebenen und 1988/89 verabschiedeten Verfassungen mehrerer nordostbrasilianischer Bundesstaaten verbieten nämlich Atomkraftwerke zur Stromerzeugung sowie Deponien von radioaktiven Abfällen in ihren Hoheitsgebieten.
So ist laut Art. 216 der pernambucanischen Verfassung „die Errichtung von Kernkraftwerken auf dem Gebiet des Staates Pernambuco solange untersagt, bis alle Kapazitäten zur Energieerzeugung aus Wasserkraft und anderen Quellen erschöpft sind.“  Die Verfassung Bahias formuliert es schlichter: Laut Art. 226 „sind im Staatsgebiet verboten: die Installation von Kernkraftwerken und die Deponierung von nuklearen oder radioaktiven Abfällen, die außerhalb des Staates erzeugt wurden“. Ähnlich die Verfassungstexte von Ceará, Piauí, Paraíba und Sergipe.

Ober sticht Unter!

Doch dies ist nun seit kurzem Schnee von Gestern. Der Oberste Bundesgerichtshof (STF) in Brasilia erklärte am 14. September diesen Jahres einstimmig den Artikel in der Verfassung von Paraíba, der die Errichtung von Atomkraftwerken sowie die Entsorgung von Atommüll im Bundesstaat verbietet, für verfassungswidrig. Für die Erlassung von Regeln und Normen für kerntechnische Anlagen, den Transport von radioaktivem Material und die Ausarbeitung von Bau-und Betriebsvorschriften von Anlagen zur Herstellung von Kernbrennstoff und zur Nutzung der Atomkraft sei die Nationale Atomenergiekommission (CNEN) zuständig und nicht die Bundesstaaten, begründete die STF-Richterin und Ministerin Cármen Lúcia.
Drei Tage später fielen die Verbote in den Verfassungen von Ceará und Piauí. „Es ist nicht Sache der Bundesstaaten, Gesetze zu erlassen, die nukleare Tätigkeiten jeglicher Art, den Transport und die Verwendung radioaktiver Stoffe und den Standort von Kernkraftwerken vorsehen“, entschieden die Bundesrichter. Die Union habe die ausschließliche Entscheidungshoheit über Kernkraft. Bereits im Oktober vergangenen Jahres hatte der STF das Atomkraftverbot von Sergipe für Verfassungswidrig erklärt.
Nun fordert Brasiliens Generalstaatsanwalt Augusto Aras, daß auch die letzte Hürde, der Art. 216 der pernambucanischen Verfassung für unrechtmäßig erklärt und der Weg frei wird für ein atomares Nordostbrasilien und für Pernambucos ersten Atomreaktor.

Indigene halten dagegen

Bereits 2011 hatte Eletronuclear das rund 500 Kilometer von der Landeshauptstadt Recife entfernte Itacuruba im Sertão Pernambucos als „besten“ Standort für ein mit Flusswasser gekühltes Kernkraftwerk ausgewählt. Doch die in dieser abgelegenen Region lebenden und in der Anti-Atomkraftbewegung „Articulação Sertão Antinuclear“ zusammengeschlossenen indigenen Völker und Quilombolas halten weiter dagegen. Sie werden unter anderem tatkräftig unterstützt von der lokalen Diözese Floresta, Brasiliens katholischer Bischofskonferenz (CNBB) und Wissenschaftlern wie der  Ethnologin Vânia Fialho von der staatlichen Bundesuniversität von Pernambuco (UFPE). Ihrer Ansicht nach ist die Errichtung eines Atomkraftwerks in Itacuruba eine Menschenrechtsverletzung, die insbesondere die elf indigenen Völker und neun Quilombola-Gemeinden in der Region betrifft.
In ihrer jetzt Anfang Oktober vorgestellten Broschüre „Nein zum Atomkraftwerk in Itacuruba, im Nordosten und in Brasilien“ führt die „Articulação Sertão Antinuclear“ Dutzende von weiteren Gegenargumenten an. Der geplante Atommeiler könnte insbesondere dem Rio São Francisco schweren Schaden zufügen, schreiben die Autoren. Zudem sei es eine Lüge zu behaupten, dass ein solches Atomprojekt zur Schaffung lokaler Arbeitsplätze beiträgt und die sozialen Probleme dieser Region löst. „Die Bevölkerung von Itacuruba, die bereits in der Vergangenheit durch den Bau des Wasserkraftwerks Itaparica schwer gelitten habe, weiß, dass diese Großprojekte der lokalen Bevölkerung keinen Nutzen bringen“, heißt es in der Broschüre weiter.
1988 hatte der 834 Quadratkilometer große Stausee des Itaparica-Wasserkraftwerks das fruchtbarste Land des Pankará-Volkes und ihr Heimatdorf sowie die ursprüngliche Stadt Itacuruba unter Wasser gesetzt. Die Indigenen wollen jetzt 33 Jahre später nicht ein weiteres Mal Opfer eines Energiegroßprojekts werden und im Schatten eines Atomkraftwerks leben.
 „Wir wollen kein Atomkraftwerk in unserem angestammten Territorium und auch nicht entlang unseres Flusses, dem São Francisco, der um Hilfe ruft“, bekräftigte die Kazikin Lucélia Pankará der Pankará-Gemeinde Serrote dos Campos während einer öffentlichen Anhörung im Senat anläßlich der Pro-Atomkraft-Entscheidung des STF.  Die Kazikin beklagte zudem, daß die Regierung bis heute nicht das restliche Stammesgebiet der Pankará demarkiert und anerkannt hat. Gleiches gelte für sechs weitere indigene Völker und die neun Quilombos von Itacuruba.

Ausgabe 164/2021