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Klimakrise in Brasilien: Zwischen Rückschritt und Hoffnung

Maysa Schiefer da Costa Lima   Übersetzung: Lea Hübner

Im Zeitraum zwischen 2010 und 2021 stiegen die brasilianischen Brutto-Treibhausgasemissionen um alarmierende 40 Prozent, so das Klimaobservatorium (Observatório do Clima, 2023).

Im Zeitraum zwischen 2010 und 2021 stiegen die brasilianischen Brutto-Treibhausgasemissionen um alarmierende 40 Prozent, so das Klimaobservatorium (Observatório do Clima, 2023). Mehr als ein Jahrzehnt nach der Verabschiedung der Nationalen Politik zum Klimawandel (PNMC, Política Nacional sobre Mudança do Clima), die eine freiwillige Verpflichtung zur Verringerung der Emissionen und zur Reduzierung der Entwaldung im Amazonasgebiet um 80 Prozent bis 2020 vorsah, ist Brasilien hinsichtlich der Verringerung der Entwaldung im Amazonasgebiet auf beschämende Weise gescheitert, das Land hat seine Emissionsziele nicht erreicht und ist im Kampf gegen den Klimawandel gegen den Strom geschwommen.

Obwohl die Emissionen in allen Sektoren gestiegen sind, ist es wichtig zu betonen, dass im Gegensatz zum globalen Panorama in Sachen Emissionen fast die Hälfte der brasilianischen Bruttoemissionen aus Landnutzungsänderungen stammen, die hauptsächlich auf die Abholzung zurückzuführen sind (Observatório do Clima, 2023). Allein im Jahr 2021 war dieser Sektor für die Emission von 1,18 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalent verantwortlich, der höchste Wert seit 2009 (Observatório do Clima, 2023). Daher spielt die Erhaltung des Amazonas-Regenwaldes eine äußerst wichtige Rolle bei der Reduzierung der Emissionen Brasiliens. In diesem Zusammenhang ist klar, dass ein erheblicher Teil des Emissionsanstiegs in Brasilien auch direkt mit der zunehmenden Walddegradation zusammenhängt.

In der Vergangenheit war Amazonien das Biom, das für die höchsten Treibhausgasemissionen verantwortlich war, vor allem aufgrund der Abholzung, die durch das Vordringen der Viehzucht in diesem Waldgebiet verursacht wurde. Die Abholzung des Regenwaldes im Amazonasgebiet hat alarmierende Ausmaße angenommen, insbesondere unter Jair Bolsonaro, dessen Regierung offen eine Politik der Umweltzerstörung betrieb. Die Maßnahmen zur Kontrolle der Entwaldung, die seit 2004 in Kraft waren, wurden 2019 mit der Aufhebung des Plans zur Verhinderung und Kontrolle der Entwaldung im Amazonasgebiet abgebaut. Tragischerweise erreichte die kumulierte Entwaldung während der Amtszeit Bolsonaros (2019 - 2022) 35.193 km² (Imazon, 2023). Im Jahr 2022 verzeichnete Amazonien das fünfte Jahr in Folge eine Rekordabholzung mit einer Gesamtfläche von 10.573 km², was die größte Zerstörung seit 15 Jahren darstellt (Imazon, 2023).

Wärmeres Klima

In Bezug auf die Durchschnittstemperaturen stellte sich das brasilianische Szenario, dem globalen ganz ähnlich, nicht als günstig dar: Laut einer Studie des Instituto Nacional de Meteorologia (Inmet, Nationales Meteorologisches Institut, 2022) sind die Temperaturen in Brasilien in den letzten 60 Jahren um durchschnittlich 1,5 °C gestiegen. Einer Studie des Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais (INPE, Nationales Institut für Weltraumforschung, 2023) zufolge sollen die Höchsttemperaturen in Brasilien im Vergleich zu den Aufzeichnungen von vor 60 Jahren tendenziell um bis zu 3 °C steigen. Dieser Anstieg wird sich insbesondere in den Regionen im Norden, Nordosten und Westen des Landes bemerkbar machen.

Der Temperaturanstieg ist bereits im ganzen Land zu spüren und hat sich in der gesamten Region noch verstärkt. Nach Angaben des Nationalen Meteorologischen Instituts war der Juli 2023 nicht nur der heißeste Monat in der jüngeren Geschichte der Erde, sondern auch in Brasilien seit 1961. Im August kam es in 19 der 26 brasilianischen Bundesstaaten zu einer außergewöhnlichen Hitzewelle mit Temperaturen von bis zu 42º C. In der zweiten Septemberhälfte warnten Meteorologen vor einer weiteren solchen Hitzeperiode in Brasilien zum Ende des Winters Beginn des Frühlings. Jüngsten meteorologischen Daten zufolge könnten in verschiedenen Teilen des Landes Temperaturen von 40° C und darüber erreicht werden, was die historischen Durchschnittswerte der Höchsttemperaturen überträfe (Metsul Metereologia, 2023).

Erzürnte Natur

In Brasilien kommt es immer öfter zu klimatische Extremereignissen. Hitzewellen, Dürren und Überschwemmungen sind häufiger, intensiver und lang anhaltender geworden und variieren je nach Region. Dem Länderbericht 2023 der Weltbank über Klima und Entwicklung zufolge belaufen sich die durch klimatische Extremereignisse wie Dürren, Sturzfluten und Flussüberschwemmungen in Städten verursachten durchschnittlichen Verluste auf 13 Milliarden R$ pro Jahr (das entspricht 2,6 Milliarden US-Dollar, oder 0,1 % des BIP von 2022).

Der Einfluss des Klimawandels auf die Zunahme der Häufigkeit und Intensität klimatischer Extremereignisse scheint augenfällig. Katastrophen aufgrund von Überschwemmungen und Erdrutschen werden in Brasilien immer häufiger. Zu Beginn des Jahres 2023 geschahen gleich zwei tragische Ereignisse: eine Überschwemmung in Acre, bei der mehr als 15.000 Menschen obdachlos wurden, und ein historischer Sturm an der Nordküste des Bundesstaates São Paulo, der Überschwemmungen und Erdrutsche verursachte, die mehr als 60 Todesopfer und rund 2.000 Obdachlose zur Folge hatte.

Im Mai gab es in Aracaju im Nordosten des Landes während fünf Tagen in Folge heftige Regenfälle, die sämtliche historischen Durchschnittswerte für den Monat übertrafen. Durch Erdrutsche wurden dabei Grundstücke unsicher und mussten gesperrt, 16 Familien mussten wegen der Gefahr, dass der Fluss Poxim über seine Ufer tritt, aus ihren Häusern evakuiert werden.

Im Juni, Juli und September litt der Süden Brasiliens an den katastrophalen Auswirkungen    außertropischer Wirbelstürme, welche die Region mit übermäßigem Regen, extrem heftigen Windböen und Hagelfällen überzogen. Am stärksten von Überschwemmungen betroffen war der Bundesstaat Rio Grande do Sul. Den Behörden zufolge traf es 106 Gemeinden mit insgesamt 359.000 Bewohnerinnen und Bewohner, 49 Menschen kamen zu Tode, 10 werden vermisst. Es handelt sich um die schlimmste Naturkatastrophe der letzten sechzig Jahre in Rio Grande do Sul.

Wir sprechen hier nicht von Naturphänomenen, sondern von Katastrophen, die durch    klimatische Extremereignisse verursacht werden und die durch den Klimawandel verschärft und durch das Fehlen einer wirksamen öffentlichen Anpassungspolitik zur Abschwächung der Auswirkungen der Klimakrise und zur Bekämpfung der sozialen Ungleichheit noch verschlimmert werden. In einem Land, in dem große Ungleichheit herrscht, sind es leider die Menschen mit geringem Einkommen, die Schwarzen und die Mittellosen, die in der Regel die geringsten Überlebenschancen bei den durch diese Ereignisse verursachten Katastrophen haben. Darüber hinaus wird geschätzt, dass extreme Wetterereignisse das Potenzial haben, ab 2030 weitere 800.000 bis 3 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer in die extreme Armut zu treiben (Weltbank, 2023).

Brasilien ist bei der Klimaanpassung weit im Rückstand. Im Jahr 2016 wurde der Nationale Plan zur Anpassung an den Klimawandel (Plano Nacional de Adaptação às Mudanças Climáticas) ins Leben gerufen, der in den letzten sechs Jahren aufgrund des mangelnden Interesses der Vorgängerregierungen an der Klimaagenda weitgehend vernachlässigt wurde. Die mangelnde Vorbereitung auf Klimanotstandssituationen betrifft auch die Hauptstädte der brasilianischen Bundesstaaten: 17 der 27 Hauptstädte (einschließlich des Bundesdistrikts) haben keine kommunalen Pläne zum Klimawandel, darunter Porto Alegre und Aracaju, Städte, die bereits von klimabedingten Katastrophen betroffen waren (Agência Pública, 2023).

In Reaktion auf die Tragödien, die sich in Brasilien abgespielten haben, wurden einige Fortschritte erzielt. Die Regierung von Rio Grande do Sul hat kürzlich eine Soforthilfe für die Opfer von Klimaereignissen genehmigt. Außerdem fand kürzlich eine öffentliche Anhörung statt, um die Dringlichkeit der Verabschiedung eines Klimanotfallplans durch die Landesregierung zu erörtern. Trotz spezifischer Anpassungsinitiativen auf lokaler und regionaler Ebene ist ein umfassenderes Engagement erforderlich, um Klimaanpassungspläne zu entwickeln und vor allem, um sie wirksam umzusetzen. Auf Bundesebene debattieren Ausschüsse über die Notwendigkeit eines Plans und solider öffentlicher Maßnahmen zur Bewältigung der wiederkehrenden Auswirkungen    klimatische Extremereignisse, einschließlich des Vorschlags einer Soforthilfe für die Opfer.

Im Kontext der Klimakrise ist es wichtig hervorzuheben, dass Entwicklung, soziale Gerechtigkeit und der Kampf gegen den Klimawandel miteinander einhergehen müssen. Die Investitionen in soziale Projekte zur Verringerung der Armut, zum Abbau der sozialen Ungleichheit, die zur Gewährleistung des Zugangs zur Grundversorgung und zur Bekämpfung von Rassismus sollten Teil der Pläne zur Bekämpfung von Klimakatastrophen sein.

Es bleibt ein Rest Hoffnung

Die amtierende Regierung hat einen Prozess zur Neugestaltung der Klimapolitik Brasiliens angestoßen. An seinem ersten Tag im Amt hat Präsident Luiz Inácio Lula da Silva die Verwaltung des Amazonasfonds reaktiviert und die Pläne zur Verhinderung und Kontrolle der Entwaldung aufgegriffen.

Von Januar bis August dieses Jahres ging die Entwaldung im Amazonasgebiet im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um bemerkenswerte 48 Prozent zurück, wie aus den Daten des Deter-B-Systems des Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais (Nationales Institut für Weltraumforschung, 2023) hervorgeht. Unter den verschiedenen Sofortmaßnahmen, die zur Bekämpfung der Entwaldung in der Region ergriffen wurden, hat die Wiederaufnahme der Inspektionen durch das Instituto Brasileiro do Meio Ambiente e dos Recursos Naturais Renováveis (IBAMA, Institut für Umwelt und erneuerbare natürliche Ressourcen) und das Instituto Chico Mendes de Conservação da Biodiversidade (ICMBio, Chico-Mendes-Institut für die Erhaltung der biologischen Vielfalt) eine wesentliche Rolle bei der Erzielung positiver Ergebnisse gespielt.

Zusätzlich zu den Inspektions- und Kontrollstrategien hat die derzeitige Regierung das Programm „Union mit den Gemeinden zur Verringerung der Entwaldung und der Waldbrände im Amazonasgebiet" ins Leben gerufen, um den 69 Gemeinden, die im Kampf gegen die Entwaldung als vorrangig gelten, technische und finanzielle Unterstützung zu gewähren. Diese Initiative soll diese Gemeinden dazu ermutigen, sich aktiv für den Schutz    Amazoniens einzusetzen.

Am 20. September verkündete die Ministerin für Umwelt und Klimawandel, Marina Silva, auf dem Klimagipfel die Verpflichtung Brasiliens, die Emissionen bis 2025 um 48 % und bis 2030 um 53 % zu senken. In absoluten Zahlen bedeuten diese Ziele eine Rückkehr zu den im Jahr 2015 gesetzten Zielen, nach Korrektur des Rückwärtskurses, den die Regierung Bolsonaro in Sachen Klima eingeschlagen hat. Obwohl der Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC, 2023) die Notwendigkeit ehrgeizigerer Ziele betont, bringt das Fehlen neuer Klimaziele für Brasilien das Land in eine heikle Lage, was seine Glaubwürdigkeit in Bezug auf das im Pariser Abkommen festgelegte Prinzip der Progression angeht. Es ist zu hoffen, dass in naher Zukunft neue und ehrgeizigere Klimaziele in Brasiliens NDC (Nationally Determined Contribution) festgelegt werden, sowie die Entwicklung einer langfristigen Strategie, um diese Ziele tatsächlich zu erreichen.

Die Widersprüche in der Politik der Regierung in Bezug auf die Klimaziele sind nicht unbemerkt geblieben. Während die Ziele und Pläne wieder aufgegriffen werden, haben Teile der Regierung, einschließlich des Präsidenten selbst, die Ölgewinnung im Amazonasmündungsgebiet verteidigt. Das Amazonasbecken ist ein ökologisch sensibles Gebiet mit großer biologischer Vielfalt und reichen Fischereiressourcen. Die Unterstützung dieses Projekts läuft nicht nur den Dekarbonisierungszielen zuwider, sondern birgt auch Umweltauswirkungen und Risiken für die Region.

Bei der 78. Generalversammlung der Vereinten Nationen am 19. September sprach Lula in seiner Eröffnungsrede über die Ungerechtigkeiten, die die schwächsten Gruppen bei der Bewältigung der Krise erleiden, und forderte Finanzmittel von den Industrienationen zur Umsetzung der Ziele des Pariser Abkommens und des Globalen Rahmens für biologische Vielfalt. Er betonte auch die privilegierte Stellung Brasiliens bei der Produktion erneuerbarer Energien und bei der Energiewende, erwähnte aber nicht die Kontroverse um die Ölgewinnung vor der brasilianischen Küste in der Nähe des Äquators (Margem Equatorial).

Nach einer Zeit geringen internationalen Ansehens spielt Brasilien wieder eine führende Rolle bei den globalen Klimaverhandlungen und stellt sich den zahlreichen Herausforderungen beim Wiederaufbau der Umwelt- und Klimapolitik, wenn auch nicht ohne Missverständnisse und Widersprüche. Präsident Lula ist jedoch optimistisch, was seine Regierung und die Zukunft des Landes angeht: „Die Hoffnung hat wieder einmal über die Angst gesiegt. Unsere Aufgabe ist es, Brasilien zu vereinen und wieder ein souveränes, gerechtes, nachhaltiges, solidarisches, großzügiges und fröhliches Land aufzubauen. Brasilien ist dabei, sich von neuem mit sich selbst, mit unserer Region, mit der Welt und mit dem Multilateralismus zu verbinden. Ich werde nicht müde zu wiederholen: Brasilien ist zurück. Unser Land ist zurück, um seinen gebührenden Beitrag zur Bewältigung der wichtigsten globalen Herausforderungen zu leisten.“ (UN-Generalversammlung, 2023).

Maysa Schiefer da Costa Lima hat einen Bachelor-Abschluss in Biowissenschaften (USP), einen Master-Abschluss in Ökologie (ENBT – JBRJ) und in Umweltwissenschaften (Universität Freiburg, Deutschland) und ist Klimaaktivistin. Instagram: @maysasclima, E-mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

 

BrasilienNachrichten 168/2023